Donnerstag, 8. Oktober 2015

Flüchtlinge! Asyl! Das Boot ist voll! Das Hirn ist leer!

Ich muss Stellung beziehen. Dass die wenigen Hirnfürze zu Pegida von mir nicht ausreichen, war klar. Aber irgendwie konnte ich das Thema „Flüchtlinge“ aka "mimimi" nicht so griffig, fokussiert und unterhaltsam auf den Punkt bringen, wie es mein Anspruch ist. Doch dann habe ich die Kolumne in der der ZEIT von Thomas Fischer gelesen und wusste: So klug, so pointiert und gleichzeitig so unterhaltsam, werde ich das nie schreiben können.

Ich ziehe meinen Hut vor Thomas Fischer, seines Zeichens ehemaliger Kraftfahrer und Paketzusteller, der inzwischen Bundesrichter in Karlsruhe ist. Er studierte Germanistik, Soziologie und Jura (Promotion zum Dr. iuris utriusque). Der Mann ist so klug, gebildet und dabei witzig, dass ich a) mit ihm unbedingt mal 14 Bier oder alternativ 15 Mineralwasser trinken möchte und b) dass ich weiß: so klug, gebildet und witzig wie er, werde ich wohl leider nie sein.

Seine exzellente und trotz ihrer Länge sehr leicht zu lesende Kolumne in der der ZEIT (1), empfehle ich einfach jedem. Am meisten aber all den „Besorgten Bürgern“ (2), die gerne sagen „ich hab ja nichts gegen…, aber“. Ich empfehle sie auch den unchristlichen Führern der CSU (die eigentlich NSU – Nationalistische, soziale Union) heißen müsste. Namentlich Kalif Horst Seehofer und Großwesir Markus – Isnogud – Söder.

Für alle Eiligen habe ich ein paar wesentliche Absätze von Thomas Fischers Kolumne unten zusammengefasst. Aber ich empfehle dennoch dringend, sie HIER im Original zu lesen.

#ThomasFischer #DieZeit #Flüchtlinge #Asyl #Zuwanderung #Pegida #HeinrichAugustWinkler #ChristophSchwennicke #ThomasKreuzer #CSU #DasBootistvoll #ichhabjanichtsgegenaber #Zeitabonnieren



Schaffen wir das?

Eine Kolumne von Thomas Fischer

[Die Kurzfassung]


Die "Grenze der Kapazität" ist in aller Munde. Sie ist aber, so scheint mir, bislang nur die Grenze, bei deren Überschreiten sich an unserem eigenen Leben etwas ändern könnte. Das hat mit "Kapazität" nichts zu tun und auch nichts mit "Möglichkeit", sondern mit der Definition von Selbst und Fremd, Innen und Außen.

[…]

Wir wissen seit langer Zeit, dass in jedem Jahr Tausende im Mittelmeer ertrinken. Wir haben ganz genau gewusst, dass der Krieg im Irak nicht dem Frieden diente, sondern der imperialistischen Sicherung von Öl. Wir haben gewusst, dass unser "Feldlager" in Kundus nicht die Überführung der afghanischen Frau in den deutschen Juristinnenbund zum Ziel hat. Wir "bekämpfen" Terror, Massenmord und Willkür, immer wo und wie es uns gefällt, und richten dem Rest der Welt aus, das Recht auf Leben und Würde gelte "nach Maßgabe der Möglichkeiten".

[…]

Seit es menschliche Gesellschaften gibt, "produzieren" sie Vorstellungen und Identitäten von Innen und Außen: von den Dazugehörigen und den Fremden. Die Fremden sind die Feinde. Die Merkmale, anhand derer diese Differenzierung getroffen wird, sind nicht zufällig, aber willkürlich; sie folgen keiner übergeordneten Rationalität.

[…]

Wenn morgen nördlich von München ein gewaltiger Vulkan heraufstiege und das Land verwüstete, und sich 13 Millionen Bayern mit Plastiktüten ohne BMWs auf den Weg machten, um aus Chaos und Hunger und Todesgefahr zu fliehen: Was täten wir? Was würde die Kanzlerin sagen und was der Oberbürgermeister von Pegidaland anordnen? Was geschähe mit den Herren und Damen, die die Errichtung von "Hotspots" und Grenzzäunen zwischen Bayern und Baden-Württemberg fordern? Will sagen: Da hätten wir ein schönes Beispiel zum Thema "Kapazität" und "Maßgabe der Möglichkeiten". Jetzt müssen wir nur noch klären, warum das bei Bayern so ist und bei Syrern anders.

Was wir aber auf gar keinen Fall klären müssen, liebe Herren Professoren und Chefredakteure, ist Folgendes: Was tun wir, wenn sieben Milliarden Menschen oder 150 Milliarden Marsbewohner oder 80 Millionen afrikanische Gnus zu uns kommen?  Sie tun es nicht! Nicht heute, nicht morgen, nicht in 500 Jahren! Es ist ein erbärmlicher Trick, die Forderung nach schlechter Behandlung von einer Million Menschen damit zu rechtfertigen, dass es bei 50 Millionen "schwierig" würde.

[…]

"An der Grenze angelangt" soll Deutschland sein. Wenn das so wäre: Armes Deutschland! Das Problem ist die Definition dessen, was wir als "Grenze" und "Belastbarkeit" ansehen. Die Grenze wird offenbar da gezogen, wo unser eigenes Alltagsleben tangiert ist. Also: Flüchtlinge so lange, bis ich mich einschränken muss. Was für eine erbärmliche Definition des "Möglichen", was für eine peinliche Vision!

[…]

Wenn alle armen Menschen dieser Welt (so die Staatskanzlei Bayern) oder alle Kriegsflüchtlinge dieser Welt (so Prof. Winkler) gleichzeitig zu uns (gemeint: Deutschland in den Grenzen von 1990) kämen, könnte es eng werden.

Mein lieber Herr Professor! Das ist ja eine Zeitenwende der Erkenntnis! Darüber haben wir ja – außer 1975, 1983, 1992, 1998 und 2003 – praktisch noch nie nachgedacht! Lassen Sie uns überlegen: 360.000 Quadratkilometer für 82 Millionen angebliche Deutsche macht 4.300 m² pro deutschen Menschen (220 pro km²). Kämen nun, sagen wir mal 60 Millionen dazu (derzeit geschätzte Zahl der Kriegsflüchtlinge auf der Welt), blieben für jeden gerade einmal noch 2.600 m², die Dichte stiege auf 360 pro km² an. Das entspricht ziemlich genau der Bevölkerungsdichte von Israel (370), Indien (370) oder Japan (340) und liegt zwischen den Niederlanden (400) und Belgien (350). In Bangladesch (1070) gilt das als gähnende Leere; auch in Südkorea (520) ist's ein bisschen enger. Trotzdem – und auch dies muss man einmal sagen dürfen: Die schaffen das.

[…]

Die "Belastbarkeit" Deutschlands (und zahlloser anderer Länder) ist um ein Vielfaches größer. "Wir" haben Hunderte von Milliarden Euro Staatsschulden aufgehäuft, um die Banken der Welt von Risiken freizustellen. Wir halten Länder an der Peripherie Europas seit vielen Jahren am Rande eines Chaos, das wir selbst keine drei Monate aushielten, damit wir Weltmeister weiterhin unsere subventionierten Produkte dorthin ausführen können und uns die Sirtaki-tanzenden faulen Griechen die Afrikaner vom Hals halten – notfalls halt ohne Menschenrechte. Wir exportieren die subventionierten Agrarprodukte aus der EU zu noch mal subventionierten Preisen nach Afrika: So lange, bis kein kenianischer Bauer mehr mithalten kann, auch wenn er bloß noch einen halben Dollar am Tag verdient.
Wir haben eine Billion Euro in die Integration von 17 Millionen Ost-Bürgern investiert, denen die ewigen Werte des Grundgesetzes bis heute ein wenig fremd geblieben sind und die sich mehrheitlich eine Mischung aus allumfassender Sozialfürsorge und totaler Freiheit von irgendeinem wünschen, der "da oben" dafür verantwortlich ist, dass das Heißwasser warm genug, das Bier billig und die Wohnung kostenlos ist. Helmut oder Angela oder Erich: scheißegal.

[…]

Das "Undenkbare" wird ja stets nur so genannt, weil es denkbar ist und gedacht werden soll. Sehr besorgt ist Herr Professor Winkler darüber, dass "es kippen" könnte. Er meint damit: Die Bevölkerung Deutschlands könnte sich gegen die Flüchtlinge wenden, wenn diese nicht aufhören, in dermaßen übertriebener Zahl hier anzukommen. Der Gedanke leuchtet ein: Wenn zum Beispiel im Jahr 1940 sechs Millionen europäische Juden nach Belgien geflohen wären, oder im Jahr 1945 etwa 600.000 Dresdner nach Leipzig: Ja da hätte doch mal einer sagen müssen: So nicht! Die Turnhalle ist voll, Volksgenossen! Wir können nicht das Elend der Welt aufnehmen in Plagwitz oder Brügge! Schon lassen sich erste Verunsicherungen unseres Arbeitsmarktes verspüren! Der Fisch wird knapp, und die Quarkkeulchen erst recht!

[…]

Denken wir einmal das Denkbare: Was könnte man mit Grausamkeit gewinnen? Weltkriegsteilnehmer, Sarrazinisten und Welthistoriker bevorzugen diese Variante. Oder jedenfalls das tabulose Nachdenken darüber. Grausamkeit bedeutet: 20 Meter hohe Mauern, 100 Meter breite Todesstreifen, rund um Europa. Napalm auf Flüchtlingstrecks; Bomben auf Boote; Scharfschützen an allen Küsten.

Selbst dann, so ist aus militärischen, nachrichtendienstlichen und welthistorischen Gründen zu vermuten, würde uns das Problem nach wenigen Jahrzehnten überfordern. Die Terroristen da draußen sind nicht blöd. Sie graben sich durch, sie vergiften unser Wasser oder häuten alle Robbenbabys live im Fernsehen, sodass unsere gepiercten deutschen Abiturientinnen magersüchtig werden vor Mitleid und heimlich ihren Twitter-Account herausgäben, über den Hacker etwas vollkommen unmenschlich Perverses gegen unsere abendländische Menschenwürde unternähmen. Zum Beispiel kleine deutsche Kinder mit verätzten Händen in einer stinkenden Brühe von Elektronikschrott herumkramen lassen oder sie für 8 Cent pro Stunde 16 Stunden am Tag in einer Leder-Gerberei in Dakar knechten.

Wir müssten uns im Inneren so verändern, dass unsere Zivilisation zusammenbräche, und hätten doch niemals Sicherheit angesichts der Dynamik der Entwicklung in der Welt, die ein wenig größer ist als Deutschland. Denn von den 150 Millionen km² der derzeitigen Landfläche des Planeten nimmt Deutschland ungefähr 0,25 Prozent ein.

Also: Die Wahl, die sich die Winklers und Seehofers und Schwennickes – aus ganz unterschiedlichen Motiven – zu erträumen behaupten, haben wir nicht. Wir müssen, auch wenn wir uns fürchten, die angeblichen "Tabus" anders bestimmen. Nicht bei der Formulierung von banalen Selbstverständlichkeiten und formalen Anforderungen, sondern beim Formulieren und Hinterfragen von existenziellen Gegebenheiten – Staat, Nation, Schicksal, Menschsein, Solidarität: Innen und Außen. Das Erbärmlichste, was uns Politiker zurzeit liefern – ob mit oder gegen ihre Überzeugung – ist die Reaktivierung von nationalistischen Dummheiten und einer Kultur der Abschottung, die angeblich dem "Interesse der Menschen" entspricht. Das wird verbrämt mit Phrasen von den "Sorgen der Bürger" und allerhand "Befürchtungen".

Ob "Wir schaffen das" ein programmatischer oder nur ein Verlegenheitssatz war, kann dahinstehen. Die Bedenkenträger der Parteien, die alles gern zurückdrehen möchten, haben weder gegen das eine noch gegen das andere eine Chance. Denn es steht fest, dass "wir das schaffen werden". Was sonst? Welch Frage an die Weltgeschichte, ob diese es wohl "schaffen" werde, was sich ereignet! Und der einzig rationale Kern: Die Frage, ob es eine bestimmte soziale Struktur, mit einer bestimmten "Kultur"-Vorstellung, es wohl "schaffen" werde, eine Veränderung der Gegebenheiten in der Welt zu verstehen und – wie auch immer verändert – zu überstehen, ist kaum weniger infantil. Was denn sonst? Wir haben die Überwältigung der Heiden durch den Glauben des Christentums "geschafft" und die 400-jährige Kultur der Osmanen in Europa. Wir haben die Ausrottung von fast 70 Prozent der europäischen Bevölkerung geschafft, zwei große und unzählige kleinere Kriege mit Hunderten von Millionen Erschlagenen. Wir haben es geschafft, halb Asien und ganz Afrika und Südamerika über Jahrhunderte im Elend zu halten, um uns deren Reichtümer anzueignen.

Da werden wir es doch wohl schaffen, ein paar Millionen Hungerleider in deutschen Turnhallen durchzufüttern, bis ihnen und uns etwas Besseres einfällt.

Herr Winterkorn und seine Spießgesellen – auch dies muss jetzt einmal gesagt werden dürfen – haben in den letzten zwei Wochen knapp 50 Milliarden Euro vernichtet. Davon kann der deutsche Pegidianer bei 2.000 Euro voraussetzungslosem Grundeinkommen 500.000 Jahre lang leben. Hiervon gibt er, kinder- und tierlieb wie er ist, gern etwas ab, und schon ist die Grenze der Möglichkeiten eine ganz andere.

Es wird schon irgendwas rauskommen. Hoffentlich nicht Herrn Söders Grenzbollwerk. Ganz gewiss nicht Artikel 16a Grundgesetz in der Fassung von Herrn Winkler: Asyl "nach Maßgabe der Möglichkeiten". Selten habe ich von einem so intelligenten Menschen einen so unintelligenten und absurden Vorschlag gehört. Es schwebt mir seither vor, auch das Bundesbesoldungsgesetz an die Weltläufe anzupassen: Jeder ordentliche Professor an einer deutschen Hochschule hat nach seiner Emeritierung Anspruch auf Altersversorgung nach Maßgabe der Möglichkeiten. Willkommen in Deutschland!

 
(1) = abonniert
(2) = Die Anführungszeichen sind semantische Absicht

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